28 Oktober 2012

Brasilien, Land der Gegensätze

Letzte und vorletzte Woche war ich mit Vertretern deutscher Firmen in Brasilien unterwegs, genauer gesagt in den Bundesstaaten São Paulo und Minas Gerais. Die von uns besuchten brasilianischen Firmen, u.a. ein Sojabohnenverarbeiter, drei Anlagenbauer, ein Folienhersteller, ein Aluminiumhersteller, mehrere Kontraktlogistiker und ein Flugzeugbauer spiegelten das reiche Brasilien wider, ein industrialisiertes Brasilien, welches kein Schwellenland mehr ist und noch viel weniger ein Entwicklungsland. Früher hiess es noch, Brasilien nenne sich Belíndia, wo sich Belgien, das reiche Brasilien, mit Indien, dem armen Brasilien, treffe. Dieser Begriff, von Edmar Bacha 1974 geprägt, wurde jetzt von Delfim Netto durch Engana abgelöst. Das ist besonders nett, weil enganar im Portugiesischen Täuschen bedeutet. Gemeint ist diesmal, dass Brasilien bereits das Bruttoinlandsprodukt Englands habe, aber die Regierung ihrer Bevölkerung nur die Dienstleistungen und Infrastruktur Ghanas anbiete.

Brasilien ist laut dem Weltwirtschaftsforum der achtgrößte Verbrauchermarkt der Welt, in dem 96,3 % der Haushalte einen Kühlschrank haben. 2001 waren es nur 89 %. Bei Fernsehgeräten ging der Index von 89 auf 97,2 % und bei Waschmaschinen von 33,6 auf 51,6 %. Praktisch jeder Haushalt hat einen (Gas-) Herd und 37,1 % sind mit mindesten einem Computer mit dem Internat verbunden, eine Vervierfachung seit 2001. Seit 2001 wuchs das mittlere Einkommen um 16 % und das vor allem bei den unteren Einkommensklassen. In diesem Bereich betrug der Einkommenszuwachs sogar 68 % mehr als die Inflation. Dazu kommt, dass die Schattenwirtschaft ihre Bedeutung verliert; zwischen 2003 und 2011 nahm die Anzahl der regulär Beschäftigten um 48,1 % zu.

Aber wo viel Licht ist, ist auch viel Schatten: 40 % der brasilianischen Haushalte haben laut einer Erhebung des IBGE keinen Wasser- und Abwasseranschluss. Zum Vergleich sei gesagt, dass in den USA nur 0,6 % der Haushalte 2011 keinen Wasseranschluss und kein WC hatten. 40 % der Brasilianer können noch nicht einmal sagen, wo sie wohnen, denn ihr Haus hat keine offizielle amtliche Adresse. Bei der Erziehung und im Gesundheitswesen sowie im Transport sieht es ähnlich aus.

Zum Schluss ein weiterer kritischer Punkt, die Kriminalität. Gestern wurden innerhalb von nur 3 Stunden 5 Menschen in der Stadt São Paulo und weitere 6 in den zugehörigen angrenzenden Gemeinden, die mit der Stadt die 20 Mio. Einwohner - Metropole bilden, ermordet. Und es handelt sich dabei nicht um Eifersuchtsdramen oder Raubüberfälle, sondern um kaltblütige Hinrichtung von bisher in diesem Jahr über 80 Militärpolizisten, oft ausserhalb ihrer Dienstzeit, und auch Zivilisten. Gegen diese organisierte Kriminalität hat die Polizei bisher noch kein adäquates Mittel gefunden.

Aber ich will nicht pessimistisch sein und Ihnen eine gute Nachricht nicht vorenthalten. In meinem Gespräch letzten Freitag mit dem brasilianischen Mehrheitsgesellschafter einer Logistikfirma, die von seinem Vater gegründet wurde und die 20.000 Mitarbeiter beschäftigt, sagte er mir, dass er glaube, dass Brasilien vor einem neuen Aufschwung stehe und sehr wahrscheinlich 5 bis 6 Jahre hoher Prosperität und grossem Wachstums vor sich habe, bis wieder eine Konsolidierungsphase eintrete. Diese Einschätzung wurde mir von einigen Direktoren der FIESP, dem Industrieverband São Paulos, bestätigt. Wer also noch nicht in Brasilien Geschäfte macht, sollte jetzt damit anfangen. Und Sie kennen ja den Unterschied zwischen einem halb vollen und einem halb leeren Glas, es gibt keinen, es kommt nur auf die Einstellung des Betrachters an. Und deshalb sehe ich auch die prekäre Infrastruktursituation etc. als Chance, diese zu beseitigen und dabei noch gute Geschäfte zu machen.

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