27 Dezember 2015

Korruption, das brasilianische Dauerthema

In meinem Buch WIRTSCHAFTSBOOM AM ZUCKERHUT schrieb ich schon 2008: "Also musste 1961 ein neuer Präsident die Geschicke Brasiliens in die Hand nehmen, João Goulart, der aber aus dem Misserfolg seines Vorgängers nichts gelernt hatte und ihn in punkto Reformen noch zu übertrumpfen suchte. Er meinte mit der Unterstützung von links, vor allem auch der Gewerkschaften, gegen Korruption und Misswirtschaft vorgehen zu können, rechnete aber nicht mit der massiven Ablehnung durch das Militär, welches ihn 1964 in einem Putsch durch den Chef des Generalstabs Castelo Branco ersetzte."  Das Problem ist also nicht neu: "Weitere Höhepunkte der jüngeren Geschichte Brasiliens sind die Einführung einer neuen Verfassung am 5.10.1988, die Gründung des Mercosurs oder, wie die Brasilianer sagen, des Mercosuls und die Abdankung von Präsident Collor, gegen den ein Amtsenthebungsverfahren wegen Korruption lief. Der ersten Regierung Lula, die sich schwereren Vorwürfen ausgesetzt sah, blieb ein solches traumatisches Verfahren erspart. Aber mit Ausnahme des Präsidenten, dessen Charisma und Popularität ihn wohl davor bewahrte, wurden etliche Mitglieder und Mitarbeiter seiner Regierung angeklagt." Wegen der leider großen Bedeutung der Korruption in Brasilien und ihrer offensichtlichen Unbekämpfbarkeit widmete ich ihr ein ganzes Kapitel in meinem Buch:

Brasilianer und Korruption

"Was denken die Brasilianer über die Korruption, deren Aufdeckung fast die Regierung Lula gegen Ende der ersten Amtszeit des Präsidenten gestürzt hätte? Und ist die Korruption wirklich so weit verbreitet, wie man in den hiesigen Zeitungen lesen kann? 
Wenden wir uns zunächst der zweiten Frage zu. Die weit verbreitete Korruption ist mit Grund dafür, dass heute das organisierte Verbrechen und hier vor allem der Rauschgifthandel in Brasilien Fuß fassen konnte. Immer wieder werden große Drogenbosse in Brasilien festgenommen und auch verurteilt, führen aber ihre Geschäfte von ihrer Hochsicherheitsgefängniszelle aus mühelos weiter. Das ist möglich durch eine korrupte Polizei und durch eine manchmal käufliche Justiz, die vereinzelt selbst Richter zu Handlangern des Drogenhandels macht. Die Leichtigkeit, mit der Geld in großem Umfang bisher in Brasilien gewaschen werden konnte, trug ein Übriges dazu bei. Zwar hatte die populär Schecksteuer genannte Abgabe auf Kontenbewegungen dem Finanzamt die Kontrolle durch den automatischen Vergleich von Geldabfluss und erklärtem Einkommen erleichtert, aber diese Steuer lief Ende 2007 aus. Aber Drogenhändler legen ihre illegalen Einkünfte nicht dem Finanzamt gegenüber offen, sondern kaufen mit Bargeld u.a. Firmen und landwirtschaftliche Anwesen auf und versteuern dann die regulären Einkünfte aus ihren plötzlich legalen Geschäften. Und wie der Skandal um die von der Regierung Lula mit staatlichen Geldern gekauften Abgeordnetenstimmen zeigt, sind auch hohe Politiker in aktive und passive Korruption eng verstrickt. Der einzige Lichtblick ist die Tatsache, dass solche Fälle in der Presse, die leider nur von einem kleinen Teil der Brasilianer gelesen wird, angeprangert und seit neuestem auch gerichtlich verfolgt werden, wie die Anklageerhebung gegen vierzig Beschuldigte im Korruptionsfall der Regierung Lula Ende 2007 zeigte.

Und was denken die Brasilianer nun über die Korruption? Dazu machte der Soziologe Alberto Carlos Almeida 2007 eine interessante Aussage, die auf seiner empirischen Forschungsarbeit beruht. Danach haben siebzehn Prozent der Brasilianer nichts dagegen einzuwenden, dass ein gewählter Politiker sein Amt zur seiner persönlichen Bereicherung benutzt und die res publica wie sein Eigentum behandelt. Wenn man sich die Situation etwas näher anguckt, merkt man allerdings schnell, dass es hier eine Korrelation gibt, die wehtut und nicht auf die Schnelle beseitigt werden kann. Denn eine Auswertung der angegebenen Meinung in Abhängigkeit von der genossenen Ausbildung lässt das Bild viel düsterer aussehen.  So werden aus durchschnittlich siebzehn Prozent auf einmal vierzig, wenn man nur die des Lesens und Schreibens Unkundigen herauspickt. Je besser die Ausbildung ist, desto weniger sind die Befragten mit der Bereicherung korrupter Politiker einverstanden. Aus der Gruppe, die bis zur vierten Serie (Volksschule) die Schule besucht hat, haben nur noch einunddreißig Prozent Verständnis; bei denen, die es bis zur achten Serie (Mittelschule) schafften, sind es siebzehn Prozent; bei denen, die ihre Oberschulausbildung mit der elften Klasse abschlossen, fünf Prozent und bei denen, die eine Universitätsausbildung (nicht immer mit der einer deutschen Universität vergleichbar) absolvierten, gerade mal drei Prozent. 

Ähnlich krass sind die Verhältnisse bei der Frage, ob es sich nur um eine Gefälligkeit gehandelt habe, wenn ein Angestellter des öffentlichen Dienstes bzw. ein Beamter für seine Hilfe, einen Regierungsauftrag zu ergattern, ein Geschenk der bevorzugten Firma erhält. Es ist doch nur ein Gefallen (und keine Korruption), sagen im Mittel dreißig Prozent der befragten Brasilianer, aber wenn man die Differenzierung des ersten Beispieles auch hier anwendet, findet man, dass siebenundfünfzig Prozent der Analphabeten keine Bestechung darin sehen, dass die Hilfe zur Erlangung eines Staatsauftrages mit einem Geschenk belohnt wird. Bei den Volksschülern sind es dann einundvierzig Prozent, bei den Mittelschülern vierunddreißig Prozent, bei den Oberschülern zweiundzwanzig und bei den Universitäts- und Hochschulabsolventen nur noch fünf Prozent. 

Almeida weitete seine Fragestellung auch auf andere Gebiete aus, so fragte er nach der Einstellung zur Zensur und ob man für oder gegen Homosexualität bei Männern sei. Dass die Polizei aus Gefangenen Geständnisse herausprügelt, findet eine Zustimmung, die an die Zeiten der Diktatur erinnert, aber vielleicht auch zeigt, wie überdrüssig der normale Bürger der Kriminalität geworden ist.  Und zum Schluss stellt er die für Deutsche eher kuriose Frage, ob Hausangestellte, denen die Benutzung des »herrschaftlichen« Aufzuges erlaubt werde, künftig trotzdem weiterhin den »Dienstbotenaufzug« benutzen sollten. Nach Meinung des Soziologen Almeida lassen sich aus seiner Umfrage u.a. vier Schlussfolgerungen ziehen: 

JE STÄRKER DIE MITTELKLASSE AUSGEPRÄGT IST, DESTO UNÜBERWINDLICHER WIRD DIE KORRUPTIONSBARRIERE. DAS SO GENANNTE JEITINHO (wie man Unmögliches möglich macht, siehe auch Anhang) IST DER WARTERAUM DER KORRUPTION. DEMOKRATIE IST NUR MÖGLICH MIT VERMEHRTER SCHULBILDUNG. ES IST NICHT SO, DASS DIE WÄHLER DIE KORRUPTIONSANKLAGEN VERGESSEN (WENN SIE ZUR NÄCHSTEN WAHL GEHEN), SONDERN DIESE SIND IHNEN EINFACH NICHT WICHTIG."

Wenn wir den Sprung von damals an das Ende des Jahres 2015 wagen, müssen wir leider feststellen, dass sich wenig geändert hat. Die Korruption wird zwar von den Medien angeprangert und von Lesern ernsthafter Zeitungen in Zuschriften beklagt, aber weder die parlamentarische Opposition noch die schweigenden Mehrheit artikulieren sich ausreichend dagegen, mit dem Ergebnis, dass einsame Rufer in der Wüste - lava jato - die Botschaft zwar verkünden, aber nicht wissen, ob sie gehört, verstanden und befolgt wird. Vielleicht werden wir auch so zugeschüttet mit Informationen wie mensalão und petrolão, dass wir einfach abgestumpft sind - so wie die Mehrzahl beim Vorbeifahren an einer favela diese entweder gar nicht wahrnehmen oder als normal betrachten.

Aber es keimt Hoffnung auf, denn in einer neuen Befragung von DATAFOLHA wurden als größte Probleme Brasilien diese genannt:
  • 34 % KORRUPTION
  • 16 % GESUNDHEITSWESEN
  • 10 % ARBEITSLOSIGKEIT
  •   8 % SCHULWESEN
  •   8 % GEWALT
Also haben doch viele Brasilianer endlich erkannt, wie sehr die Korruption ihrem Land und ihnen selbst schadet. Denn die Korruption ist oft die Ursache der nachgenannten Probleme. Die Korruption bedroht sowohl die Demokratie als auch den sozialen Fortschritt des Landes - eines jeden Landes. 

Wußten Sie z.B., dass in der letzten Wahl 2014 nur drei Unternehmen 39 % der offiziell verbuchten Wahlkampfmittel der drei Spitzenkandidaten gespendet haben und nur zehn Unternehmen "geholfen" haben, 70 % der Abgeordneten zu wählen?

Wahrscheinlich nicht, denn Brasilien steht auf der Weltrangliste von TRANSPARENCY INTERNATIONAL nur auf Platz 69 der Korruptionswahrnehmung.

Die UNO schätzt die durch Korruption in Brasilien entwendeten Mittel auf jährlich 200 Mrd. R$, die natürlich dem Staatshaushalt fehlen. Mit diesem Betrag könnte das Budget des Gesundheits- oder Erziehungsministeriums verdreifacht werden. Die für die Öffentliche Sicherheit Rio de Janeiros vorgesehen Mittel könnten damit verzwanzigfacht werden, das Sozialprogramm bolsa família könnte 8 Jahre davon bestritten werden und die sogenannten ajustes fiscais, die heute so dringend notwendig sind, können viermal davon bezahlt werden.

Wir sind zwar angeblich die siebtgrößte Wirtschaftsmacht der Erde, aber stehen beim HUMAN DEVELOPMENT INDEX auf Platz 79! Und bei der Wettbewerbsfähigkeit sieht es nicht besser aus, das Weltwirtschaftsforums sieht Brasilien hier auf Platz 75. Kein Wunder, wenn wenige Großunternehmen durch Kartellbildung lukrative Regierungsaufträge zu überhöhten Preisen für sich sichern und den anderen Unternehmen die Luft zum Atmen abdrosseln und sie in häufig sogar in den Konkurs treiben. Ohne Wettbewerb gibt es keine  Druck zur Kostensenkung und Innovation.

Eine Frage sollte unsere Regierung uns Steuerzahlern beantworten: Warum soll die Schecksteuer CPMF wieder eingeführt werden, mit der man sich Einnahmen von 32 Mrd. R$ jährlich erhofft, wenn man durch Korruptionseliminierung 200 Mrd. R$ jährlich einsparen kann?

Übrigens hat die Bundesstaatsanwaltschaft zehn Korruptionsbekämpfungsmaßnahmen vorgeschlagen. Warum wird daraus keine Gesetzesvorlage gemacht? Warum geht dafür niemand auf die Barrikaden, wenn gegen eine Fahrpreiserhöhung in São Paulo Millionen auf die Straße gingen?

Und glauben Sie nicht, dass es nur um große Fische geht. Vor einigen Tagen sagte mir ein Buchhaltungsbürochef, der eine Gesellschaftsvertragsänderung registrieren lassen wollte, dass dies nur möglich war, weil er 2.000 R$ Schmiergeld an den Mitarbeiter des Öffentlichen Dienstes, die dieser für die Bearbeitung des Vorganges gefordert hatte, zahlte.

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